LESERBRIEF
DIE EINHEITSMEINUNG DES VOLKS IST EINE RECHTSPOPULISTISCHE FIKTION
Urs Paul Engeler fordert, den "Basisentscheid an der Urne bei der Bestellung der Institutionen, genauer des Bundesrats, zu respektieren". "Genau nach den den Vorgaben der 2,2 Millionen Wählerinnen und Wähler" könne das Parlament am 10. Dezember "einen Bundesrat ernennen" - gemeint ist offensichtlich Christoph Blocher -, indem "die Politiker einfach den Volkswillen umsetzen würden". Engeler orakelt auf wolkige Weise wie sein maître à penser. Tatsache ist, dass sich eine seriöse Interpretation des Wählerwillens keinesfalls auf eine Einheitsmeinung reduzieren lässt, jene illiberale volonté générale, als deren alleiniger Inter-pretator Blocher bzw. dessen Sprachrohr Engeler den Anspruch erhebt. Die SVP-Wählerinnen und -Wähler haben am 19. Oktober ihr Votum nicht für eine Bundes-ratskandidatur von Christoph Blocher abgegeben, genauso wenig wie die Wählerinnen und Wähler der übrigen Parteien: Sie haben lediglich ihre Präferenzen für eine bestimmte Partei ausgedrückt. Das Wahlergebnis lässt im Sinne der arithmetischen Konkordanz lediglich den Schluss auf eine neue Zauberformel zu - 2 SVP-, 2 FDP-, 1 CVP- und 2 SPS-Bundesräte. Die aus demokratischer Sicht dubiosen Umstände der Ernennung Blochers zum offiziellen SVP-Bundesratskandidaten sowie das von Ueli Maurer proklamierte Diktat an die übrigen Parteien sind Belege für die These, dass es sich bei der SVP Schweiz mittlerweile um eine rechtsautoritäre Kaderpartei handelt, die dem "demokratischen Zentralismus" (Lenin) verpflichtet ist.
Blocher fordert nicht nur die übrigen Parteien ultimativ auf, ihn unter Ausschaltung jeglicher unliebsamer parteiinterner Konkurrenz in den Bundesrat zu wählen, sondern mischt sich mittlerweile in impertinenter Weise in die Angelegenheiten einer anderer Partei, der FDP, ein, empfiehlt er dieser doch ungefragt, sich gleichermassen auf einen einzigen neuen Bundesratskandidaten zu beschränken. Sein auf eine illiberale Systemveränderung hinzielendes "komplett neues Regierungsverständnis" steht gleichfalls im Zeichen des "demokratischen Zentralismus": Engste Zusammenarbeit zwischen Fraktion und Bundesrat bedeutet, dass entweder der jeweilige Bundesrat seine Fraktion/Partei oder diese ihre(n) Vertreter im Bundesrat ans Gängelband nimmt, je nach Konstellation. Derartige Praktiken wandten bisher die SPS oder der zum Cäsarismus wie Blocher neigende Kurt Furgler gegenüber der CVP an. Nach wie vor gilt aber weiterhin der von der grossen Bevölkerungsmehrheit gestützte Grundsatz, dass ein Bundesrat in erster Linie die übergeordneten Interessen des Landes und seiner Bürger und nicht die partikulären Anliegen seiner Partei oder gar seiner Person zu vertreten habe. Furgler ist politisch an seinem (links-)autoritaristischen Machtstreben gescheitert, was Blocher bisher nicht zu Kenntnis genommen zu haben scheint.
Die FDP sollte ihren im Schockzustand gefällten Entscheid, die Wahl von Christoph Blocher in den Bundesrat zu unterstützen, revidieren, den Anspruch der SVP auf einen zweiten Bundesratssitz weiterhin akzeptieren sowie sich aus Eigeninteresse um ein gemeinsames Vorgehen mit der CVP bemühen. Die Idee eines linkszentristischen Programms zwischen FDP und CVP liegt nicht im FDP-Interesse und ist schleunigst zu begraben. Sie könnte allerdings für eine noch zu gründende Sozialliberale Partei aus Linksfreisinnigen wie Yves Christen, Dick Marty, John Dupraz, Fritz Schiesser und Michèle Berger-Wildhaber attraktiv sein.
Die bisher lediglich verbal geäusserte Bereitschaft der SVP zur Übernahme von Regierungsverantwortung müsste von den übrigen Bundesratsparteien in harten Verhandlungen getestet werden, indem ihr ein Eingehen auf Forderungen, die im wirtschaftlichen und politischen Interesse des Landes liegen (Bilaterale I und II, etwa freier Personenverkehr im Rahmen der EU-Osterweiterung, Schengen und Dublin; Portierung eines zweiten valablen SVP-Bundesratskandidaten), nahegelegt wird.
Es ist davon auszugehen, dass aufgrund des Diktats der SVP-Führung der Godwill selbst zahlreicher SVP-Wählerinnen und -Wähler in Frage gestellt ist. Die Behauptung des SVP-ZK, Blocher sei der "beste Kandidat der Partei", ist falsch: Der unternehmerische Leistungsausweis von Peter Spuhler sowie dessen wirtschafts- und finanzpolitische Kompetenz dürften vergleichbar sein. Bei einer Konkordanz- und Kollegialitäts-Verträglichkeitsprüfung schneidet Spuhler deutlich besser als Blocher ab, desgleichen in Bezug auf das politische Verfallsdatum (Blocher ist mittlerweile 63-, Spuhler erst 44jährig). Zudem hat die einen anständigen Politstil verfechtende und politisch berechenbare Thurgauer SVP am 19. Oktober prozentual klar besser abgeschnitten als die Zürcher SVP.
Es wäre ein fataler Trugschluss, zu glauben, dass Realpolitik und Parteiräson zwangsläufig für eine Appeasementpolitik gegenüber der SVP sprächen - davon bin ich als Libertärer und freisinniger Wähler überzeugt. Zwar hat Spuhler - wohl auf Druck der Parteiführung - erklärt, er würde eine allfällige Wahl in den Bundesrat nicht annehmen. Dies sollte die vereinigte Bundesversammlung aber nicht davon abhalten, den Thurgauer Nationalrat, der programmatisch den offiziellen Kurs der Partei mitträgt, im Falle, dass Blocher alleiniger SVP-Bundesratskandidat bleiben sollte, in die Landesregierung zu wählen. Die SVP Schweiz würde in ein Dilemma gestürzt, vor das man sie nicht schützen darf. Ihr müsste zuvor klargemacht werden, dass ihr im Falle eines Gangs in die Opposition die Regierungstüren verschlossen blieben, da Samuel Schmid nicht länger von den verbliebenen Bundesratsparteien getragen würde und zurücktreten müsste.
Die Strategie von Franz Steinegger und Adalbert Durrer in dessen Schlepptau, Schmid anstelle des offiziellen SVP-Bundesratskandidaten Roland Eberle in die Landesregierung zu wählen, war einfältig. Dass sie auf falschen Prämissen gründete und daher von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, war seinerzeit leicht voraussehbar. Engeler war nicht der Einzige, der dies hellsichtig prognostizierte. Blocher ist als Stratege und Taktiker dem Urner, der als FDP-Parteipräsident mehr Katastrophen anrichtete als vereitelte, weshalb dessen Übername "Katastrophen-Franz" von besonderer Ironie ist, turmhoch überlegen. Es ist daher unschwer vorauszusagen, wer in einer denkbaren zukünftigen Landesregierung den Takt mit oder gegen Pascal Couchepin angeben würde, der Herrliberger Berlusconi oder der Frank A. Meyer-Freund auf Ogis Ringier-Pfaden, und welche Partei gefährdet wäre, in vier Jahren noch mit einem Sitz im Bundesrat vertreten zu sein.
Mit der Wahl des momentan besten Finanzpolitikers, Hans-Rudolf Merz, in den Bundesrat, die zugleich eine überfällige Kurskorrektur aus Parteiräson symbolisieren würde, könnte die FDP den Wettbewerb mit einer regierenden oder opponierenden SVP um die Leaderstellung bei den wirtschaftsliberalen und antietatistischen Wählerinnen und Wählern neu lancieren, und zwar mit grossen Erfolgschancen. Merz, klar bester FDP-Stratege, wäre zugleich ein idealer Landesvater in der Tradition von Nello Celio. Der kantige Appenzeller könnte dem in einer Kampfwahl gegen einen alternativen SVP-Bundesratskandidaten obsiegenden und dadurch erst demokratisch fürs Bundesratsamt legitimierten Christoph Blocher als Kollege Paroli bieten und für den Freisinn die thematische Leadership bei der längst überfälligen Reformierung unseres Landes, der Hauptvoraussetzung für die Rückkehr zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum, zurückgewinnen.
Andreas K. Winterberger, Meilen
Dieser Leserbrief wurde der Redaktion der "Weltwoche" ("WeWo") am Freitag, 7. November 2003 gemailt.