Tages-Anzeiger Artikel

Zwischen den Wahlen (4), Regierung durch das Volk?, © Tages-Anzeiger; 2003-10-25; Seite 9

Inland

Zwischen den Wahlen (4) Regierung durch das Volk?

Der Staat müsse zurückgebunden werden. Deshalb brauche die Schweiz eine starke Opposition - und zwar mit der SVP, findet der liberale Robert Nef.

Von Robert Nef *
Ich teile Christoph Blochers Analyse, dass unser Staat vor entscheidenden Herausforderungen steht. Die jungen Menschen, auf deren Schultern die ganze Last des hoch verschuldeten Umverteilungssystems ruht, werden nicht mehr lange passiv und in Konkordanz zuschauen, wie sich graue Schafe und graue Panther und andere Wohlfahrtsstaatsklienten um den kleiner werdenden Staats- und Rentenkuchen streiten. Die Pleite des Wohlfahrtsstaats ereilt allerdings andere Länder Europas wohl noch vor uns, und wir können bei andern abgucken, wie man so etwas halbwegs friedlich hinter sich bringt.

Die liberalen Hoffnungen, die ich mit dem politisch folgerichtigen Einzug einer Zweiervertretung der SVP in den Bundesrat verbinde, halten sich in Grenzen. Ich befürchte, dass die Bereitschaft, sich aus etatistischen Sackgassen und Fehlentwicklungen geordnet, aber unverzüglich zurückzuziehen, auch mit Christoph Blocher als Regierungsmitglied nicht wesentlich gesteigert würde. Das hat mit der Tatsache zu tun, dass das politische Schicksal dieses Landes nur zu einem kleinen Teil von der Regierungsspitze abhängt. Das Land wird von einem Heer von Funktionären verwaltet, die in komplexer Weise miteinander vernetzt sind. Zudem hat die Vorstellung vom «starken Mann», der innerhalb der Konkordanz das Steuer herumreisst und die andern mitzieht, wenig zu tun mit der Realität unseres Systems. Das höchste gesetzgebende Staatsorgan ist das Volk, und was ist das anderes als eine permanente ganz grosse Koalition aller politischen Strömungen?

Keine Regierung «mit starker Hand»

Die Volksrechte führen zu einer mehrheitsbestimmten «Volks-Konkordanz». Aufgabe der Landesregierung ist es, die oft widersprüchlichen Volksentscheide bestmöglich umzusetzen, und zwar nach Massgabe von Verfassung und Gesetz und ohne Berücksichtigung persönlicher und parteipolitischer Programme. Die programmorientierte Regierung «mit starker Hand» ist in unserem System nicht vorgesehen, auch aussenpolitisch nicht.

Zugegeben, die hier skizzierte Auffassung von einer zurückhaltenden, an das Recht und an Volksentscheide gebundenen Staatsführung «im Auftrag des Volkes» wird heute weder vom Bundesrat noch vom medial-gouvernementalen Komplex geteilt. Aus ihrer Sicht heisst regieren «dem Volk beibringen, was es zu wollen hat».

Die wirklich liberale Auffassung der Beschränkung des Regierungsauftrags auf den Schutz der Freiheit und den schrittweisen Abbau staatlicher Macht findet man heute nur noch bei kleinen Minderheiten in verschiedenen Parteien, auch bei der SVP - allerdings nicht bei jenem Flügel, den man aus unerfindlichen Gründen den «liberalen» nennt. Könnten sich also zwei SVP-Bundesräte gegen fünf nicht besonders wohlwollende Kolleginnen und Kollegen durchsetzen? Ich fürchte, nein.

Für Opposition, gegen SVP

Aus liberaler Sicht habe ich deshalb eine Vorliebe für das Oppositionsszenario, bei welchem das demokratische Urbild der «Regierung durch das Volk» wieder besser zum Ausdruck käme. Regierung, Verwaltung und Parlament würden dadurch weniger mächtig, und dies hätte aus meiner Sicht mehr Vor- als Nachteile. Dafür würden Ad-hoc-Mehrheiten bei Volksentscheiden aufgewertet.

Ob allerdings auf diesem Weg der Liberalismus automatisch gestärkt würde, ist eine andere Frage: Mehrheiten optieren oft für mehr Sicherheit zu Lasten der Freiheit.

Hinzu kommen weitere gute Gründe gegen das Szenario «SVP als Oppositionspartei mit Blocher als Schattenbundesrat». Was passiert nämlich in Regierungssystemen, bei denen Regierung und Opposition abwechseln? In der Regel versucht die Regierungspartei die populärsten Bestandteile des Oppositionsprogramms ins eigene Programm zu integrieren, um damit der Opposition «den Wind aus den Segeln zu nehmen». Was sind denn die populärsten Komponenten der SVP-Politik? Es sind leider nicht jene von mir favorisierten liberalen, antietatistischen und antibürokratischen Programmpunkte, sondern die fremdenfeindlichen und strukturkonservativen Komponenten, die zur Rechten wie zur Linken viele offene und verdeckte Sympathisanten haben.

Um solche Tendenzen zu bremsen, braucht es eine unabhängige radikale Regierungskritik. Ausgerechnet solche Stimmen werden aber heute immer wieder marginalisiert und als «rechts» abgestempelt. Das heutige Zweiparteiensystem, «SVP und die andern», muss - auch im Interesse der SVP - wieder durch einen differenzierten, reformorientierten Meinungspluralismus abgelöst werden, und das gilt bei allen möglichen Szenarien.

* Robert Nef ist Leiter des Liberalen Instituts und Mitherausgeber der «Schweizer Monatshefte».

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